11.07.2019 – RA Bierschenk:
Müller ist mit seinen Arbeitszeiten sehr unzufrieden. Es gibt kaum einen Tag, an dem er pünktlich aus dem Büro kommt. Immer muss er wenigstens 15, manchmal auch 30 Minuten länger arbeiten. Es ist ihm peinlich und lästig, solche geringfügigen Überschreitungen der Arbeitszeit zu notieren und von seinem Arbeitgeber jeweils genehmigen zu lassen. Andererseits hat er ausgerechnet, dass diese „Überminuten“ sich pro Jahr auf ca. 55 Überstunden addieren. Diese zusätzliche Arbeitszeit möchte er seinem Arbeitgeber nur ungern schenken. Er meint, eigentlich müsste der Arbeitgeber verpflichtet sein, die gesamten Arbeitszeiten zu dokumentieren. Er wendet sich an seine Gewerkschaft, die im Wege einer Verbandsklage die Feststellung begehrt, dass der Arbeitgeber verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der von seinen Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten, mit dem die Einhaltung zum einen der vorgesehenen Arbeitszeit und zum anderen der Verpflichtung, die Mitarbeiter über die monatlich geleisteten Überstunden zu unterrichten, überprüft werden könne.
Das Gericht stellt fest, dass der Arbeitgeber kein betriebsinternes System zur Erfassung der geleisteten Arbeitszeiten eingerichtet habe, mit dem die Einhaltung der vereinbarten Arbeitszeiten überprüft und die möglicherweise geleisteten Überstunden berechnet werden könnten. Insbesondere verwende der Arbeitgeber eine Software, mit der nur die ganztägigen Fehlzeiten wie Urlaub oder sonstige freie Tage erfasst werden könnten, nicht jedoch die von jedem Arbeitnehmer geleistete Arbeitszeit und die Zahl der geleisteten Überstunden. Das Gericht prüft die „Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“. Diese Richtlinie der Europäischen Union verlangt von den Mitgliedsstaaten, dass sie die erforderlichen Maßnahmen treffen, „damit nach Maßgabe der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer“ die entsprechenden Schutzvorschriften eingehalten werden. Es setzte das Gerichtsverfahren daher aus und legte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Sache im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens zur Entscheidung vor.
Der EuGH entschied mit Urteil vom 14. Mai 2019, dass die Mitgliedsstaaten alle Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein System einzurichten, mit dem die – gesamte – tägliche Arbeitszeit der Mitarbeiter gemessen werden kann. Die Mitgliedstaaten müssen alle erforderlichen Maßnahmen treffen, dass den Arbeitnehmern die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten und die Obergrenze für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit der Arbeitszeitrichtlinie tatsächlich zugute kommen. Nur so – so der EuGH – könnten Behörden und Gerichte den durch die EU-Grundrechtecharta und die Arbeitszeitrichtlinie bezweckten Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer tatsächlich und effektiv kontrollieren. Ohne ein System, das die tägliche Arbeitszeit misst, sei es äußerst schwierig, wenn nicht sogar praktisch unmöglich, dass Arbeitnehmer ihre Rechte durchsetzen können.
Nach dieser Entscheidung des EuGH ist die gesamte Arbeitszeit vollständig zu dokumentieren und Überstunden sind kenntlich zu machen. Hierfür ist jetzt allein der Arbeitgeber verantwortlich. Der deutsche Gesetzgeber ist nun aufgefordert, Regelungen zu schaffen, die Arbeitgeber verpflichten, entsprechende Systeme zu unterhalten bzw. anzuschaffen. Dies ist sicherlich nicht schwierig für große Firmen, die bereits „Stechuhren“ haben. Hier wird es bei einer Ergänzung der Software bleiben. Die übrigen und insbesondere kleinere Firmen werden solche Systeme jedoch anschaffen müssen. Wie die Vorgaben des EuGH bei Außendienstmitarbeitern oder bei Arbeitern im Homeoffice funktionieren sollen, ist jedoch völlig offen. Vertrauensarbeitszeit wird es jedoch sicher nicht mehr geben. Die neuen Regelungen des deutschen Gesetzgebers mit entsprechenden Kosten für sämtliche großen und kleinen Unternehmen werden in Kürze folgen.